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Europäische Haus

Der bildhafte Vergleich von Europa als ein Haus kam nach der Gründung der KSZE in Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion auf. Doch richtig populär wurde er erst, als der sowjetische Präsident Gorbatschow ihn seit 1987 in mehreren Reden als Metapher für seine Vorstellung von der Zukunft Europas verwendete. Gorbatschow führte zur Entstehung und Bedeutung dieses Begriffs aus:

"Nachdem ich mich auf eine neue politische Perspektive eingestellt hatte, konnte ich die mehrfarbige, einem Flickenteppich ähnelnde politische Landkarte Europas nicht mehr auf die herkömmliche Weise akzeptieren. Der Kontinent hat an Kriegen und Tränen mehr als genug gehabt. Als ich das Panorama dieser schwer geprüften Länder an mir vorüberziehen liess und über die gemeinsamen Wurzeln dieser so vielgestaltigen, doch im wesentlichen gemeinsamen europäischen Kultur nachdachte, wurde ich mir in zunehmendem Masse der Künstlichkeit und Zeitweiligkeit der gegenwärtigen Konfrontation der Blöcke und der veralteten Vorstellung vom "Eisernen Vorhang" bewusst. Möglicherweise kam mir auf diesem Weg die Idee des gemeinsamen europäischen Hauses in den Sinn ...

Europa ist in der Tat ein gemeinsames Haus, wo Geographie und Geschichte die Geschicke von Dutzenden von Ländern und Völkern eng miteinander verwoben haben. Natürlich hat jedes Land seine eigenen Probleme und möchte seine Eigenständigkeit bewahren und seinen eigenen Traditionen folgen. Um die Metapher weiter auszuführen, könnte man daher sagen: Das Haus ist ein gemeinsames, aber jede Familie hat darin ihre eigene Wohnung, und es gibt auch verschiedene Eingänge. Doch nur zusammen, gemeinschaftlich und indem sie die vernünftigen Regeln der Koexistenz befolgen, können die Europäer ihr Haus bewahren, es vor Feuersbrunst und anderen Katastrophen schützen, es besser und sicherer machen und es in einwandfreiem Zustand halten ...

Falls die Welt neuer Beziehungen bedarf, dann vor allem in Europa. Man darf sagen, dass die Staaten Europas sie unter Schmerzen hervorgebracht haben und sie verdienen. Die Vorstellung eines "gemeinsamen europäischen Hauses" betont vor allem die Ganzheitlichkeit, obwohl die betreffenden Staaten unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen und einander entgegengesetzten militärischen Bündnissen angehören."

Aus: Schwarzrock, Götz (Redaktion), Geschichtsbuch, Die Menschen und ihre Geschichten in Darstellung und Dokumentation, Ergänzungsheft, Das Ende der Nachkriegsepoche, Cornelsen Verlag, Frankfurt am Main 1992, S. 55

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