Chruschtschows Entstalinisierung und Koexistenzpolitik

Nach dem Tode Stalins setzte ein Wandel in der Politik seiner Nachfolger ein und die innere wie auch die äussere Lage der Sowjetunion änderten sich grundlegend. Die neue Führung distanzierte sich von Stalins willkürlichen Herrschaftsmethoden und begann mit der Änderung der erkannten Fehlentwicklungen. Zu diesen Massnahmen gehörten die Beseitigung einiger der engsten Vertrauten Stalins, die Reduzierung seiner Verehrung auf ein Mindestmass und die Milderung der Bedingungen in den Straflagern. Im Zuge dieser Korrekturen wurde jedoch das uneingeschränkte Machtmonopol der KPdSU nie angezweifelt.1

Parallel zu diesen Entwicklungen begann man, die Unterdrückungsmassnahmen und die wirtschaftlichen Auflagen in den Satellitenstaaten zu lockern, ein Prozess, der bis Ende 1955 anhielt und massgeblich zu verbesserten Lebensbedingungen beitrug.2

Auf dem XX. Parteitag der KPdSU leitete Chruschtschow am 25. Februar 1956 mit einer Geheimrede über Personenkult und Herrschaftsmethoden Stalins eine Periode der Entstalinisierung ein.3 Chruschtschow prangerte in seiner Rede Stalin und den Stalinismus an, verurteilte gleichzeitig aber auch die Herrschaft der Geheimpolizei und forderte mehr individuelle Freiheit sowie eine allgemeine Liberalisierung der Regierung. In einer anderen Rede charakterisierte Chruschtschow die gegenwärtige Ära durch "das Heraustreten des Sozialismus aus den Grenzen eines einzigen Landes und seine Umwandlung in ein Weltsystem."4 Diese ausdrückliche Verurteilung des bis anhin vorherrschenden Stalinismus war "ein stillschweigender Ruf nach Reformen in der gesamten kommunistischen Welt."5 Von nun an war die Unfehlbarkeit Moskaus, von der man rund 30 Jahre lang ausgegangen war, in Frage gestellt. Einerseits wurde dadurch Jugoslawiens Tito, der einige Jahre zuvor als erster kommunistischer Führer die Unabhängigkeit seines Landes von Moskau erklärt hatte, rehabilitiert, andererseits spitzte sich die Lage in den sowjetischen Satellitenstaaten zu. Das Volk drohte, sich gegen das ihm aufgezwungene Regierungssystem zu erheben. Angesichts dieser Tatsache machten sich Moskau und seine Mitarbeiter daran, den Stalinismus in aller Stille wiedereinzuführen. Man billigte zwar den von Tito eingeschlagenen Weg, wollte aber zugleich verhindern, dass diese Länder in das "feindliche Lager"6 absprangen, was katastrophale Folgen für die russische Sicherheit hätte bedeuten können. Notfalls sollten deshalb Einheiten der Roten Armee eingesetzt werden, Auseinandersetzungen schienen unter diesen Umständen vorprogrammiert.7

Der XX. Parteitag der KPdSU hatte jedoch noch weitreichendere Folgen. Seit 1956 war die Sowjetunion im Besitz einsatzfähiger Atomwaffen, womit das "Gleichgewicht des Schreckens"8 erreicht worden war. Ein Atomkrieg zwischen den beiden Grossmächten USA und Sowjetunion war nach Chruschtschows Auffassung "selbstzerstörerisch und für beide Seiten nicht zu gewinnen."9 Der marxistisch-leninistische Leitsatz, "dass Kriege unvermeidlich sind, so lange es den Imperialismus gibt"10, sei damit überholt. Gewiss seien die ideologischen Differenzen unüberbrückbar, gab Chruschtschow am 6. November 1957 bekannt. "Das schliesst aber die friedliche Koexistenz und den friedlichen Wettbewerb zwischen den sozialistischen und den kapitalistischen Ländern nicht aus."11

Die militärische Konfrontation sollte nach Chruschtschow in der Koexistenz durch den friedlichen Wettbewerb abgelöst werden. Dieser werde zeigen, "welches System lebensfähiger ist, welches System den Erwartungen der Völker mehr entspricht und sowohl die materiellen als auch geistigen Bedürfnisse der Völker ausgiebiger befriedigen kann."12 Er war der Ansicht, die Sowjetunion hätte gute Aussichten, "diesen Wettbewerb gewinnen zu können und damit der kapitalistischen Welt eine Niederlage zu bereiten."13

Die Phase der Koexistenz, in der das atomare Gleichgewicht einen künftigen Weltkrieg verhinderte, gestand den blockfreien Staaten und antikolonialistischen Befreiungsbewegungen eine grössere Bewegungsfreiheit zu. Der Neutralismus dieser Blockfreien stiess beim amerikanischen Aussenminister Dulles jedoch auf Ablehnung. Chruschtschow hingegen arbeitete mit diesen Staaten verstärkt zusammen, ohne dabei Rücksicht auf die Ideologie zu nehmen (Jugoslawien, Ägypten, Syrien, Indien). Er wollte mit seiner Zusammenarbeit die Einschliessung durch die westlichen Militärallianzen durchbrechen und China die Machtstellung in der Dritten Welt strittig machen.14

Quellenverzeichnis

1 Digital Publishing, Das 20. Jahrhundert, 1945-1968, Digital Publishing, München 1996, Die Entstalinisierungback #1
2 Halle, Louis, Der Kalte Krieg, Harper & Row Verlag, New York 1967, S. 319back #2
3 Spiegel Online, Geschichte der Deutschen, Digital Publishing, München 1998, Die Geheimrede Chruschtschowsback #3
4 Halle, Louis, S. 320back #4
5 Halle, Louis, S. 321back #5
6 Halle, Louis, S. 321back #6
7 Halle, Louis, S. 319-322back #7
8 Boesch, Joseph, Schläpfer, Rudolf, Weltgeschichte 2, Vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Orell Füssli Verlag, Zürich 1997, S. 252back #8
9 Boesch, Joseph, Schläpfer, Rudolf, S. 252back #9
10 Boesch, Joseph, Schläpfer, Rudolf, S. 252back #10
11 Boesch, Joseph, Schläpfer, Rudolf, S. 252; Zitat: S. 252back #11
12 Paul Rosenkranz, Wege zur Gegenwart, Verlag Maihof, Luzern 1991, S. 36back #12
13 Paul Rosenkranz, Wege zur Gegenwart, Verlag Maihof, Luzern 1991, S. 36; Zitat: S. 36back #13
14 Boesch, Joseph, Schläpfer, Rudolf, S. 252back #14
  

Links zum Thema

1.

Entstalinisierung
Kurze Erläuterung der Entstalinisierung.
URL: http://www.dhm.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/ ... /entstalinisierung.html

2.

Die Sowjetunion
Von der Oktoberrevolution bis Stalins Tod. 
URL: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/sowjetunion/sw1

3.

Die verdeckten Spuren des Kalten Krieges im deutschen Unterhaltungsfilm
Wie sich die Entstalinisierung und andere Episoden des Kalten Krieges auf den deutschen Unterhaltungsfilm auswirkten.
URL: http://www.dhm.de/magazine/heft5/kapitel2.htm

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