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DDR,
die friedliche Revolution
Noch im Sommer 1989 schien es ein Ding der Unmöglichkeit, dass die DDR von der politischen Landkarte verschwinden würde. Im Verhältnis der beiden deutschen Staaten ging es seit 1972 darum, "unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen in grundsätzlichen Fragen normale, gutnachbarliche Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Interesse von Frieden und Stabilität in Europa zu entwickeln und auszubauen."1 Die Wiedervereinigung Deutschlands stand aber zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion. Es gab aber Anzeichen dafür, dass die DDR in einer Krise steckte. Wirtschaftsexperten hatten festgestellt, dass die DDR-Wirtschaft seit Ende der 70er Jahre stagnierte. Diese Stagnation resultierte aus den von Erich Honecker durchgeführten wirtschafts- und sozialpolitischen Massnahmen, um die Loyalität der DDR-Bevölkerung aufrechtzuerhalten. 1983 wurde ein Staatsbankrott, wie heute bekannt ist, nur durch einen Milliardenkredit der Bundesrepublik verhindert. Von einer Ausweitung der Westexporte, um den Devisenmangel und die Staatsschuld zu beheben, konnte nicht die Rede sein, da DDR-Waren aufgrund mangelhafter Qualität kaum Absatz fand. Darüber hinaus bestanden seit Mitte der 70er Jahre gesellschaftspolitische Probleme. Die DDR unterzeichnete zwar 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki, die darin enthaltenen Menschenrechte hielt sie aber nicht ein. Dieser "Widerspruch zwischen dem Bekenntnis der DDR-Regierung zur Einhaltung der Menschenrechte auf dem internationalen diplomatischen Parkett und der Realität im Land erhöhten die Distanz der Bevölkerung zum DDR-Regime."2 Es entstanden zunehmend Oppositionsgruppen, die unter dem Dach der evangelischen Kirche Schutz suchten, weil dort der direkte Einfluss der SED nicht hinreichte. Ihre Hoffnung auf politische Veränderung wurde gestärkt durch die beginnende Reformpolitik Gorbatschows.3 1987 hatte Gorbatschow ein Tabu gebrochen, als er nach einem Vierteljahrhundert völliger Immobilität die deutsche Frage für offen erklärte. Ausserdem schloss er "jeden Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines Bruderlandes, speziell einen militärischen Einsatz,"4 aus.5 Angesichts der drohenden Veränderungen weitete die SED-Führung den Unterdrückungs- und Spitzelapparat aus und das Ministerium für Staatssicherheit wurde zur eigentlichen Macht im Staat. Die übermächtige Parteiherrschaft hatte zur Folge, dass sich die DDR-Bürger von der Politik abwandten und in die Privatsphäre zurückzogen. Längst wurde privat anders gedacht, als öffentlich gesprochen werden durfte.6 Nachdem Österreich und Ungarn an ihrer Grenze den Eisernen Vorhang geöffnet hatten, flohen in den Sommermonaten 1989 immer mehr DDR-Bürger über die "grüne Grenze"7 von Ungarn nach Österreich. Als sich die Bewegung zu einer Massenflucht ausweitete, liess Ungarn ab dem 10./11. September die DDR-Bürger ohne Absprache mit der DDR-Regierung ausreisen. Aber auch die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau wurden in den Sommermonaten regelrecht von DDR-Bürgern überrannt, die ihre Ausreise erzwingen wollten.
Ein weiteres entscheidendes Ereignis stellten die Kommunalwahlen vom 7. Mai in der DDR dar. Wie üblich erreichten die Einheitslisten der "Nationalen Front"8 gegen 99% und wie üblich war dieses Ergebnis gefälscht. Ungewöhnlich hingegen war aber, dass zum ersten Mal oppositionelle Gruppen gegen die Fälschung protestierten und Strafanzeigen stellten. Gleichzeitig mit der Fluchtwelle kam dadurch eine Bewegung im Innern in Gang, "die politischen Unmut über die SED-Herrschaft artikulierte: die Demokratiebewegung."9 Trotz aller Schikanen der Behörden formierten sich im ganzen Land Oppositionsgruppen wie "Neues Forum, Demokratischer Aufbruch und Demokratie jetzt."10 In Leipzig demonstrierten jeden Montag immer mehr Bürger gegen das SED-Regime und für Demokratie.11 Nachdem es am 7. und 8. Oktober bereits zu spontanen Demonstrationen anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung kam, brachte die "Leipziger Montagsdemonstration"12 am 9. Oktober den Durchbruch. Rund 70'000 Menschen nahmen daran teil und die Parole "Wir sind das Volk"13 wurde zum ersten Mal gerufen. Die Demonstration fand trotz Gerüchten über den Einsatz der Armee gegen die Demonstranten statt. "Vom 9. Oktober an sollte die SED das Gesetz des Handelns nicht mehr bestimmen. Das alte SED-Regime begann zu zerfallen."14 Obwohl am 17. Oktober Erich Honecker abgesetzt und durch Egon Krenz ersetzt wurde, gingen die Demonstrationen weiter. Die Reaktion kam zu spät. Immer mehr Menschen gingen auf die Strasse, bis am 4. November die Demonstrationswelle mit über einer halben Million Menschen auf dem Alexanderplatz in Berlin ihren Höhepunkt erreichte. "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestossen nach all den Jahren der geistigen, wirtschaftlichen, politischen Stagnation, den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür,"15 rief der Schriftsteller Stefan Heym den Demonstranten zu.16 Am 9. November wurde die Berliner Mauer nach einer beiläufigen Bemerkung Günter Schabowskis völlig unerwartet aufgestossen. Im Anschluss an eine Sitzung des Zentralkomitees der SED hatte dieser mitgeteilt, dass eine neue Reiseregelung beschlossen wurde, die besagte, dass Visa nun jedem kurzfristig erteilt würden. Diese Nachricht führte dazu, dass grosse Menschenmassen zu den Grenzübergängen eilten, um zu testen, ob diese Bestimmung auch tatsächlich gelte. Die DDR-Behörden verloren aufgrund dieser Massen völlig die Kontrolle und tausende DDR-Bürger strömten unkontrolliert in den Westen Berlins, wo sie von jubelnden Menschen empfangen wurden. Am Brandenburger Tor hatte die Mauer ihre Bedeutung vollends verloren. Menschen kletterten hinüber und herüber, tanzten auf der Mauer und spazierten durch das seit 1961 unzugängliche Brandenburger Tor. Erst am Morgen des 10. Novembers bekamen die DDR-Grenzwächter die Grenze wieder unter ihre Kontrolle. Schon zwei Tage später wurden aber bereits die ersten Löcher in die Mauer geschlagen und am 13. November wurde der Schiessbefehl endgültig ausser Kraft gesetzt. Das Freudenfest war aber nicht nur auf Berlin beschränkt, sondern überall in den Grenzstädten kam es zu Wiedersehensfeiern.17
Mit der Öffnung der Grenzen änderte sich vieles. Zum einen waren die Bürger der Bundesrepublik plötzlich direkt betroffen, zum anderen wurde die Parole "Wir sind das Volk"18 auf "Wir sind ein Volk"19 geändert. Als sicherster Weg zu Demokratie und Wohlstand tat sich der Weg der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik auf. Eine Einheit Deutschlands wurde zuvor aus Rücksicht auf den Status quo in Europa kaum thematisiert, nun aber legte Kohl, der Bundeskanzler der Bundesrepublik, seinen "Zehn-Punkte-Plan"20 vor.21 Dieser am 28. November vorgelegte Plan strebte als Ziel die staatliche Einheit der beiden deutschen Staaten an. Zu diesem Zweck enthielt er verschiedene Sofortmassnahmen, die nach einer Verfassungsänderung in der DDR in Kraft treten sollten. Nach freien Wahlen sollte ein Staatenbund mit dem Ziel einer deutschen Föderation geschaffen werden.22 Des Weiteren hatte der Mauerfall auch ein Machtzerfall des SED-Regimes zur Folge.23 Trotz der Öffnung der Grenzen liessen die Demonstrationen nicht nach. Das Recht auf Beteiligung an Entscheidungen und Reformen wurde gefordert. Die SED sah sich zum Handeln gezwungen und strich am 1. Dezember 1989 ihr Machtmonopol aus der Verfassung. Am 3. Dezember trat das gesamte Zentralkomitee und die gesamte SED-Führung zurück und ein Grossteil der Ehemaligen, wie zum Beispiel Honecker, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Die Partei wurde von SED in PDS (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in Partei des Deutschen Sozialismus) umbenannt. "All diese Massnahmen konnten den Verfall der SED allerdings nicht aufhalten und auch die Regierung des Ministerpräsidenten Hans Modrow konnte nur eine Übergangsregierung sein."24 Am 7. Dezember folgte das erste Treffen am sogenannten "Runden Tisch"25 zwischen Vertretern der Oppositionsgruppen und der Regierung Modrows.26 Bereits am 18. März 1990 fanden die ersten freien Wahlen in der DDR statt. Rund 93,38% aller Stimmberechtigten nahmen an diesen Wahlen teil und die Wahl selber wurde "einstimmig als eine Zusage der DDR-Bevölkerung an eine schnelle Wiedervereinigung gewertet."27
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