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Der
Wandel in den ost- und südosteuropäischen Staaten
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren zahlreiche Staaten Ost- und Südosteuropas in den Einflussbereich der Sowjetunion geraten. Bereits in den 50er und 60er Jahren hatten Länder wie Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei Versuche unternommen, die sowjetische Vorherrschaft abzuschütteln und einen von der UdSSR unabhängigen Weg zu beschreiten. Doch die Reformversuche waren entweder von den eigenen kommunistischen Regierungen unterdrückt oder von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen worden.1 In den 80er Jahren setzten in mehreren dieser Satellitenstaaten innenpolitische Veränderungen ein, die 1989 in einen rasanten Demokratisierungsprozess mündeten und sich gegenseitig beschleunigten. Der Reformprozess nahm seinen Ausgang in Polen und Ungarn, den beiden Ländern, die auf Gedankengut aus den 50er Jahren zurückgreifen konnten. Bald aber griff er auch auf zunächst reformunwillige Staaten wie die DDR, die Tschechoslowakei oder Rumänien über. In allen Fällen war vor allem die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung ausschlaggebend für die gesellschaftliche Umwälzung gewesen. Die Unzufriedenheit hatte ihren Ursprung in der mangelhaften wirtschaftlichen Versorgung, in der teilweise ausgeprägten Wirtschaftskrise, im Wunsch nach mehr Mitspracherecht und im Aufbegehren gegen den politischen Alleinvertretungsanspruch der kommunistischen Parteien. Voraussetzung für den gewaltlosen Ablauf des Demokratisierungsprozesses war aber zweifellos der politische Kurswechsel der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow seit Mitte der 80er Jahren.2 Gorbatschows neue Entspannungspolitik bedeutete zugleich eine Absage an die Breschnew-Doktrin, die den sozialistischen Staaten nur begrenzte Souveränität zugestanden hatte. 1987 bekundete Gorbatschow "Respekt für verschiede Wege zum Sozialismus."3 Polen: Die wirtschaftliche Lage Polens verschlechterte sich seit Mitte der 70er Jahre zusehends. Im Juli 1980 sah sich die polnische Regierung gezwungen, die Lebensmittelpreise zum dritten Mal innerhalb von zehn Jahren drastisch zu erhöhen, woraufhin sich eine landesweite Streikwelle ausbreitete. Einzig der Streik auf der Danziger Werft war von Anfang an mit politischen Forderungen wie Gewerkschaftsfreiheit, Pressefreiheit oder der Freilassung politisch Gefangener gekoppelt gewesen. Unter der Führung von Lech Walesa entstand am 21. August 1980 ein "Überbetriebliches Streikkomitee"4, aus welchem wenig später die Gewerkschaft "Solidarnosc"5 hervorging. Mit mehr als 10 Millionen Mitgliedern wurde die Solidarnosc trotz einsetzender Repression bald zu einem wichtigen Faktor im politischen Leben des Landes.6 Infolge der Wirtschafts- und Verschuldungskrise verschärften sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Polen. Allmählich kam der Verdacht auf, dass die Regierung die Situation nicht mehr unter Kontrolle hatte. Auf Druck von Moskau verhängte die polnische Regierung unter der Führung von General Wojciech Jaruzelski am 12. Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen und verbot die Solidarnosc.7 Nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 arbeitete die Solidarnosc im Untergrund weiter, konnte sie doch auf eine grosse Unterstützung im Volk und bei der immer bedeutender werdenden katholischen Kirche, die durch die Besuche von Papst Johannes Paul II. in den Jahren 1983 und 1987 gestärkt worden war, zurückgreifen. In der Folge versuchte die Regierung Jaruzelski, die Krise mittels ökonomischen Reformen in den Griff zu bekommen. Die Reformen wurden jedoch nie vollendet.8 Erst als sich eine neue Streikbewegung gegen Preiserhöhungen formierte und Gorbatschow die Satellitenstaaten zu Reformen ermuntert hatte, sah sich die polnische Regierung im Herbst 1988 gezwungen, Gespräche mit der seit sieben Jahren verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc aufzunehmen. Im Frühjahr 1989 berieten Vertreter der kommunistischen Partei und der Opposition in Warschau über die Einführung demokratischer Freiheiten und eine Umgestaltung der Planwirtschaft.9 In den vom 6. Februar bis zum 5. April 1989 andauernden Verhandlungen am "Runden Tisch"10 einigte man sich unter anderem auf folgende Reformen: Das Amt des Präsidenten sollte mit grösseren Vollmachten ausgestattet werden und eine zweite Parlamentskammer, der Senat, sollte eingeführt und frei gewählt werden. Auf wirtschaftlicher Ebene wurde die Anpassung der Löhne, die unter der Inflationsrate lagen, sowie eine Freigabe der Preise vorgesehen. Darüber hinaus war die Gewerkschaft Solidarnosc ab dem 17. April wieder offiziell zugelassen.11
Mit diesen Beschlüssen war ein entscheidender Schritt "für einen friedlichen politischen Wandel Polens von einem kommunistischen Regime zu einem demokratischen Rechtsstaat"12 gemacht. Der Runde Tisch von Warschau sollte zu einem Symbol für die Umgestaltung Osteuropas werden. Was der Opposition allerdings noch fehlte, war der Einfluss im polnischen Parlament. Dies änderte sich jedoch schon bei den ersten Wahlen: Das Bürgerkomitee Solidarnosc gewann 99 von 100 Sitzen im Senat und im Abgeordnetenhaus (Sejm) alle den unabhängigen Gruppen zugestandenen Mandate, was einem Anteil von 35% entsprach. Die vollständige Ablösung der kommunistischen Regierung war nur noch eine Frage der Zeit.13 Tadeusz Mazowiecki wurde im August 1989 seit über 40 Jahren erster nichtkommunistischer Ministerpräsident Polens. Unter Mazowiecki wurde der Übergang zur Demokratie gefestigt, die Hyperinflation gebremst und ein rascher Übergang zur Marktwirtschaft eingeleitet. 1990 wurde Lech Walesa bei einer direkten Wahl zum Präsidenten gewählt.14 Die "stille Revolution"15 in Ungarn: Innerhalb des Ostblocks nahm der ungarische Gulaschkommunismus eine Sonderstellung ein. In den 60er und 70er Jahren hatte Ungarn unter Janos Kadar einen vom sowjetischen Kurs und von der offiziellen Parteidoktrin leicht abweichenden Weg eingeschlagen. Kadar hatte nach dem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand von 1956 eingesehen, dass die Loyalität der Bevölkerung nur durch gesellschaftliche Zugeständnisse erreicht werden kann.16 Deshalb verfolgte die ungarische KP eine an den westlichen Lebensstil angenäherte Politik mit einer relativ liberalen Wirtschaftsweise, die sich am Weltmarkt orientierte.17 Es handelte sich dabei um eine Art stillschweigendes Einvernehmen zwischen dem ungarischen Volk und dem nach wie vor autoritären Regime Kadars: Während der Führungsanspruch der kommunistischen Partei 30 Jahre lang nicht angezweifelt wurde, gestand das Regime der Bevölkerung mehr Bewegungsfreiheiten zu.18 Anders als in Polen gingen in Ungarn praktisch alle Reformanstösse von einer Oppositionsgruppe in der kommunistischen Partei aus. Sowohl die Reformpolitik Gorbatschows als auch der zunehmende Druck der Wirtschaftskrise verhalfen dem Reformflügel schliesslich zum Durchbruch innerhalb der ungarischen Regierungspartei. Auf einem Sonderparteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) erreichte die Parteiopposition die Mehrheit für ihren Reformkurs und Kadar wurde als Parteichef abgesetzt.19 Am 3. September 1988 folgte die Gründung des Ungarischen Demokratischen Forums (UDF), welches sich für die Errichtung eines Mehrparteiensystems einsetzte. Bereits im Februar 1989 verzichtete die USAP auf ihre in der Verfassung garantierte Führungsrolle und billigte zugleich die Entwicklung eines Mehrparteiensystems. Schliesslich kam es auch zu einer Neubewertung des ungarischen Volksaufstandes, in der die "Märtyrer von 1956"20 rehabilitiert wurden. Vom 13. bis zum 19. September 1989 fanden am Runden Tisch Gespräche zwischen der USAP, den wichtigsten oppositionellen Gruppen und den Massenorganisationen statt. Man einigte sich auf freie Wahlen im Frühjahr 1990. Wenig später beschloss die USAP ihre Auflösung; aus ihr ging die Ungarische Sozialistische Partei hervor, die sich die Errichtung eines demokratischen Rechtsstaates sowie einer Marktwirtschaft zum Ziel setzte. Der Reformprozess endete mit den freien Wahlen im Frühjahr 1990, aus denen sich die Parteien des bürgerlichen Lagers als stärkste politische Kraft herauskristallisierten.21 Vergeblich hatten die ungarischen Kommunisten darauf gehofft, durch eine reformistische Flucht nacht vorne das Ende der kommunistischen Herrschaft abwenden zu können.22 Die "sanfte Revolution"23 in der Tschechoslowakei: Seit 1968 Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling niedergeschlagen hatten, "herrschte in der Tschechoslowakei beinahe Grabesruhe."24 Infolge der militärischen Intervention hatte sich bei vielen Intellektuellen die Erkenntnis durchgesetzt, dass das sozialistische System unreformierbar war.25 Aus Protest gegen die andauernden Menschenrechtsverletzungen durch das kommunistische Regime wurde 1977 die Bürgerrechtsgruppe "Charta 77"26 gegründet. Unter Berufung auf die UNO-Menschenrechtsdeklaration und die KSZE-Schlussakte von Helsinki forderten sie bürgerliche Freiheiten und politische Rechte. Die Gruppe setzte sich zum Ziel, "einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht"27 zu führen und Fälle von Menschenrechtsverletzung publik zu machen.28 Es erstaunt denn auch nicht, dass die tragenden Kräfte für den Wandel im Herbst 1989 aus dieser Bürgerrechtsbewegung kamen. Geistiger Kopf der Charta 77 war Vaclav Havel, der aufgrund seines entschlossenen Auftretens gegen das Regime verhaftet wurde und Publikationsverbot erhielt. Angestachelt durch die Reformen in der Sowjetunion und die Demokratisierungsprozesse in Polen, Ungarn und der DDR wuchs im Herbst 1989 die Unruhe in der tschechoslowakischen Bevölkerung. Im November wurde das ganze Land von einer noch nie dagewesenen Demonstrationswelle erfasst.29 Am 19. November bildeten die Anhänger der Bewegung Charta 77 ein Bürgerforum, um den Protestbewegungen gegen die Regierung eine konkrete politische Richtung zu geben.30 Als am 27. November ein von der Opposition ausgerufener Generalstreik landesweit befolgt wurde, war es um den verfassungsrechtlichen Führungsanspruch der kommunistischen Partei geschehen. Bereits am 7. Dezember 1989 trat die Regierung Adamec zurück, drei Tage später folgte der Rücktritt des Staatspräsidenten Husak. Der Schriftsteller und Bürgerrechtler Vaclav Havel wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Alexander Dubcek, die Symbolfigur des Prager Frühlings, erhielt das Amt des Parlamentspräsidenten.31 Die blutige Revolution in Rumänien: In Polen, Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei und Bulgarien war der Wandel praktisch friedlich verlaufen. Dies war einerseits auf das geschlossene Auftreten der oppositionellen Kräfte zurückzuführen, andererseits auf das schnelle Zurückweichen der alten Regimes. Im krassen Gegensatz dazu stand die Umwälzung in Rumänien. Seit Mitte der 60er Jahre hatte der Diktator Nicolae Ceausescu ein stalinistisches Schreckensregime aufgebaut und mit seiner Geheimpolizei Securitate jegliche Art von Opposition unterdrückt.32 Aussenpolitisch verfolgte Ceausescu einen unabhängigen, beinahe antisowjetischen Kurs, was ihm viel westliche Unterstützung eintrug. Während er die aus einer schweren Wirtschaftskrise resultierenden Auslandsschulden binnen weniger Jahre zurückzahlte, zwang er seinem Volk eine Sparpolitik auf, die zu extremer Verarmung und beinahe zum wirtschaftlichen Zusammenbruch führte.33 Als aber im Verlauf des Jahres 1989 politische Umbruchbewegungen in den wichtigsten Ländern des Ostblocks einsetzten, geriet auch das reformunwillige Ceausescu-Regime ins Wanken. Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, der Lebensmittelknappheit und des Personenkultes Ceausescus wuchs die Unzufriedenheit im Land und Ceausescu konnte sich nur noch dank der brutalen Terrormethoden seines Geheimdienstes an der Macht halten. Am 16. Dezember brach in der westrumänischen Stadt Temesvar ein Aufstand aus, als eine aufgebrachte Menschenmenge die Verhaftung des regimekritischen Pastors Laszlo Tökes verhinderte. Nachdem Ceausescus Sicherheitskräfte damit begonnen hatten, willkürlich auf die Demonstranten zu schiessen, schlossen sich immer mehr Menschen sowie Teile des Militärs den Aufständischen an. Es folgten regelrechte Strassenschlachten; innerhalb weniger Tage erfasste der Aufstand alle grossen Städte des Landes. Angesichts des riesigen Volksaufstandes wandten sich hohe Parteifunktionäre und Militärs von Ceausescu ab. Die Ausführung des Putsches in Bukarest überliess man der "Front zur nationalen Rettung"34, welche im Herbst von unzufriedenen Führungsmitgliedern ins Leben gerufen worden war. Am 22. Dezember 1989 wollte Ceausescu anlässlich einer einberufenen Kundgebung eine Ansprache halten, als ihn die versammelte Menge mit Buh-Rufen und Parolen wie "Nieder mit Ceausescu"35 empfing. Danach floh der Diktator mit seiner Frau, wobei die beiden wenig später auf der Flucht verhaftet und vor ein Militärtribunal gestellt wurden.36 Nach dem Sturz Ceausescus war ein Bürgerkrieg zwischen den ihm loyal ergebenen Einheiten der Securitate und der Armee entbrannt. Der Widerstand der Securitate brach erst mit der Hinrichtung des Ehepaar Ceausescus am 26. oder 27. Dezember 1989.37 Eine Übergangsregierung unter der Führung von Ion Iliescu hob einige der von Ceausescu erlassenen repressiven Gesetze wieder auf und liess Führungsmitglieder des alten Regimes festnehmen. Im Mai 1990 gewann die Front zur nationalen Rettung sowohl die Parlaments- als auch die Präsidentschaftswahlen, Iliescu wurde zum Präsidenten Rumäniens gewählt.38 Albanien und Krieg in Jugoslawien: Albanien, das ärmste Land des Ostblocks, war bis zu seinem Wandel vollständig von der Aussenwelt abgeschottet. Im Mai 1990 verkündete der albanische Staatschef Ramiz Alia eine Reihe von Reformvorhaben und einen Kurswechsel in der Aussen-, Innen- und Wirtschaftspolitik. Alia versuchte mit diesen Massnahmen, den Wirtschaftsproblemen des Landes und der daraus resultierenden Unzufriedenheit mit seinem Regime entgegenzuwirken. Darüber hinaus beschloss das albanische Parlament den Wiederaufbau des Justizministeriums.39 Während in Albanien der Demokratisierungsprozess sehr behutsam einsetzte, brach im südslawischen Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 ein grausamer Nationalitätenkrieg aus. Der Bundesstaat Jugoslawien war 1945 aus sechs Republiken und zwei Provinzen gegründet worden. Tito hatte es geschafft, die nationalen Gegensätze zwischen den verschiedenen Völker lange Zeit zu unterdrücken.40 Nach seinem Tod 1980 und dem allmählichen Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, verbanden sich die ethnischen mit politischen Gegensätzen. Die beiden wirtschaftlich erfolgreicheren Provinzen Kroatien und Slowenien strebten einen möglichst raschen Übergang zur Marktwirtschaft an. Währenddessen verfolgte die orthodox-kommunistische Führung in Belgrad das Ziel, die serbische Vormachtstellung zu behaupten. Diese unvereinbaren Positionen führten 1991 zum Ausbruch eines mehrjährigen Bürgerkrieges, der gleichzeitig das Ende des jugoslawischen Vielvölkerstaates besiegelte. Jugoslawien zersplitterte in fünf selbständige Republiken. Besonders problematisch erwies sich hierbei die Tatsache, dass die verfeindeten Völker geographisch nicht streng getrennt lebten, sondern sich im Verlauf von Jahrhunderten untereinander vermischt hatten. Gerade deswegen wurde der Bürgerkrieg äusserst blutig und schmerzhaft ausgetragen. Die serbische Führung war massgeblich daran beteiligt, weil sie von Anfang an an der Errichtung Grossserbiens interessiert war. Um dies zu verwirklichen, begannen die Serben mit der gewaltsamen Vertreibung und Umsiedlung nichtserbischer Bevölkerungsgruppen, sogenannten "ethnischen Säuberungen."41 Weder die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina noch ständige Waffenstillstandsbemühungen der Europäischen Gemeinschaft vermochten dem Krieg ein Ende zu setzen. Auch die Stationierung von Friedenstruppen der Vereinten Nationen blieb ergebnislos. All die Massnahmen bewirkten einzig und allein, "dass sich der mit Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung geführte Nationalitätenkrieg von einer Republik in die andere verlagerte."42
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